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                                       13. Athosreise

     Agrypnia in der Gipfelkapelle 18./19. August 2002

 

Nea Skiti - die "neue Skiti" - anstelle einer älteren, aufgegebenen Ansiedlung weiter oberhalb im 17. Jahrhundert neu gegründet, ist einer meiner häufigsten "Ankerplätze" auf dem Athos. So war es also an diesem dunstigen 18. August nicht das erste Mal, daß ich die steilen Treppen hinaufstieg, die vom Garten des Kellion Ag. Spyridon hinauf zu dem Weg führten, der vom Kloster Ag. Pavlou kommend sich in die Malerdörfer und Einsiedeleien im Süden der Athoshalbinsel verzweigend, schließlich bis hinüber zur Großen Lavra zieht. Wieder einmal sind die ersten Schritte die anstrengendsten, und schon zweifle ich , ob ich mir "das" wirklich antun soll, finde den Grund für meine anfängliche Schwäche aber schließlich in dem üppigen Mittagessen, das mein Gastgeber Mönch Nikon und sein Novize Kostas bereitet haben. In der Skiti der Hl. Anna, die ich in knapp einer Stunde erreiche, fülle ich meine Wasserflasche, um daraufhin das große Geröllfeld zu überschreiten, das oberhalb der Skiti liegt.

Da bis zu meinem letzten Besuch hier noch kein Motorfahrzeug anzutreffen war, muß der Personen- und Lastentransport nach wie vor mit Mulis vonstatten gehen. Deswegen hat man sich die Mühe gemacht, Treppen in die steil ansteigenden Geröllserpentinen hineinzubetonieren, die Mensch und Tier Trittsicherheit gewähren - endlich einmal eine vernünftige Infrastrukturmaßnahme. Während ich im stetigen innerlichen Singen des vierzigmaligen Kyrie eleison der Liti mein persönliches Herzensgebet finde, gelange ich Schritt für Schritt´höher. Dort wo der Wanderer an eine recht verwahrloste und wasserlose Zisterne gelangt, ist das erste anstrengende Teilstück des Aufstiegs überwunden. Nicht mehr lange, dann ist "Stavros" erreicht: An einem Wegkreuz treffen sich  die Pfade von Agias Annis, Karoulia, Agios Basilios und der Lavra; hier beginnt der eigentliche Gipfelanstieg. Von dem heimlichen Zauber den dieser Ort sonst ausstrahlt ist heute nichts zu spühren: Es herrscht Volksfeststimmung! Nackte Oberkörper, Partylaune, Trubel bei jung und alt, Griechen und Slawen. Mit lauten "Maláka, maláka"-Rufen brechen zwei junge Griechen aus dem Gebüsch, in der Hand schäumende Bierdosen, kollidieren fast mit einem mulireitenden Mönch, sein Tier scheut kurz, dann setzt er reaktionslos seinen Weg Richtung Lavra fort. Auch ich will nicht länger hier weilen und schultere wieder meinen Rucksack. Nur ein paar Schritte oberhalb der Wegkreuzung liegt ein größerer eingeebneter Platz mit einer langen Tränke. Hier, wo früher die Mulis lagerten, ist heute ein Partyplatz, was mehrere Lagerfeuerreste bezeugen; die meterlange Tränke ist bis an den Rand mit Abfall, Bier- und anderen Getränkedosen gefüllt.

Warum dieser Menschenandrang? Jedes Jahr am 6. August, also am 19. August nach Gregorianischem Kalender, wird das Metamórphosisfest in der orthodoxen Welt gefeiert - das Patroziniumsfest der Kapelle auf dem Athosgipfel. Es beginnt dort am Vorabend eine Agrypnia - eine Vigil oder Nachtwache, wie man bei  uns sagen würde - also ein bis in die frühen Morgenstunden des eigentlichen Festtages dauernder Nachtgottesdienst, dessen Mitfeier schon lange mein Wunsch gewesen war. Das Kloster Megistis Lavras, auf dessen Territorium der Athosgipfel liegt, übernimmt die Organisation der Feier, bei der die Verköstigung der Pilger die arbeitsaufwendigste Herausforderung darstellt.

Ich finde wieder meinen Gehrhythmus, eine heitere, gelassene Stimmung stellt sich ein; noch ein letzter Blick hinüber zum Kloster Simonos Petra, zurück zum Vorgipfel Prophitis Ilias, dann biegt der Weg leicht rechts ab in das Tal, das zur Panagia hinaufführt. Mit manchen anderen Pilgern werden kurze Blicke, ein paar Worte gewechselt. Den, der an mir vorbeizieht, treffe ich wieder bei seiner nächsten Rast und umgekehrt. Nur die letzte halbe Stunde wird lang und die Schritte mühsamer. Dort wo die Waldgrenze erreicht ist findet der Blick endlich die Kapelle der Panagia: Die zweite Etappe ist geschafft!

Wo der Pilger sonst tiefe Einsamkeit vorfindet, herrscht heute rege Betriebsamkeit: Viele Gerätschaften mußten vom Kloster heraufgeschafft werden, und viele Mönche kamen bis hierher geritten, so daß sich zahlreiche Mulis unter die vielen Menschen mischten. Das Klima hatte sich in der Zwischenzeit merklich verschlechtert, trotz Hochsommers pfeifft ein heftiger, kalter Wind. Ein Grieche bietet mir Zwieback und Oliven an, was ich gerne annehme. Im Inneren des Gebäudes haben zwei alte Mönche in zwei wahrhaft riesigen Pfannen Tintenfisch mit Gemüse und Nudeln gekocht, die sie in Plastikteller an die Pilger ausgeben. Natürlich werde ich sofort als "Xenos" und "Romaios" erkannt, und der eine Mönch läßt mich deutlich spüren, daß ich nicht willkommen bin und will mir nur eine ganz spärliche Ration Brot geben, nachdem ich in Anbetracht des noch vor mir liegenden Aufstiegs ohnehin auf das nicht wenig "geölte" Hauptgericht verzichtet habe. Mit deutlichen Worten erlaube ich mir, ihn auf seine Pflicht zur Gastfreundschaft, die er mir wie jedem anderen zu gewähren hat, aufmerksam zu machen. Der zweite Mönch redet schließlich beschwichtigend auf ihn ein, als er mich gar noch des Raumes verweisen möchte, und gibt mir nun die gleiche Brotration wie den anderen Pilgern, wonach sich die Gemüter wieder beruhigen.

Die verbleibenden 500 Höhenmeter fordern nochmal alle Kraft, schließlich liegen ja schon rund 1500 Höhenmeter hinter mir. Das Wetter wird zunehmend schlechter, Nebel  zieht auf und der Wind wird stärker. Erinnerungen an meinen Aufstieg Sylvester 2000 werden wach, doch damals war Winter und diesmal laut Kalender Hochsommer! Ich staune, daß schon so viele Menschen sich wieder auf dem Abstieg befinden, während wir anderen uns in einer Kolonne nach oben arbeiten. Langsam dämmert es mir, daß meine Vorstellung von einer intimen nächtlichen Feier in der Gipfelkapelle wohl eine romantische Illusion war. Als mir ein abwärts strebender Grieche aufmunternd "konta, konta!" zuruft, gibt mir dieses "Dein Ziel ist schon ganz nah!" nochmals Kraft, und bald erscheint im Nebel das Gipfelkreuz, davor ein "geparktes" Muli, das wohl die  liturgischen Geräte und Gewänder, vielleicht sogar den Priester selbst heraufgetragen hat. Allenthalben hektisches Treiben! Unterhalb der Kapelle wurden Zelte aufgeschlagen, Mulden und Felsvorsprünge wurden als Biwakplätze hergerichtet. Die Mängel meiner Ausrüstung können durch das Anziehen eines trockenen Unterhemdes nicht wettgemacht werden; wenigstens finde ich hinter einem Felsbrocken dürftigen Schutz. Als einzige Abwehr der Kälte und Nässe des Bodens dient mir eine Plastiktüte - sie wird als mein einziges "Bettzeug" in der Nacht während des Gottesdienstbesuchs den Besitzer wechseln!

Frierend stehe ich nach einem kurzen Dämmerschlaf wieder auf, es ist inzwischen Nacht geworden, ohne daß Ruhe einkehrt. Man diskutiert lautstark, die Lichtkegel von Taschenlampen zucken durch den Nebel, die einzelnen Zeltbewohner besuchen sich gegenseitig. Ein relativ harmloses menschliches Bedürfnis beginnt mich zu plagen, wofür die Athosspitze nicht eingerichtet ist. Nach längerem Überlegen fällt mir das Maultier ein, in dessen Nähe wohl der unheiligste Platz an diesem Feiertag anzunehmen ist, und schon bald fühlt sich auch der Geist wieder so frei, daß ich mich nun spirituellen Dingen widmen kann.

Aus der Kapelle dringt monotoner Gesang, der Eingang ist von einer Menschentraube umlagert, aus der Türe und den winzigen Fensterchen dringt dämpfige Luft und Weihrauchgeruch, ich geselle mich dazu. Gelegentlich drängt sich ein Gottesdienstbesucher nach außen und gibt so einem anderen die Gelegenheit hineinzugelangen. Auf diese Weise ist die Menschentraube vor dem Eingang zur Kapelle in geringfügiger aber steter Bewegung und Veränderung und auch ich finde mich nach etwa einer Stunde drinnen wieder - in der Wärme. Wir stehen dichtest gedrängt, es ist Mitternacht geworden. Von einer eigentlichen Mitfeier der Andacht kann keine Rede sein. Doch  versetzen mich Weihrauch, Kerzen und Gesang in einen Zustand, wo das Zeitgefühl entschwindet. In die mir geläufigen Antwortgesänge stimme ich kräftig mit ein. Einige verwunderte Blicke richten sich auf mich, der ich doch ganz offensichtlich ein Nichtgrieche bin. Irgendwann wird dann die Wärme zuviel, das fast bewegungslose Stehen wird zur Qual und die Beine, der Rücken verlangen nach Bewegung: langsam schiebe ich mich wieder hinaus. Luft!

Am Lagerplatz, den ich erst nach längerem Suchen finde, ist inzwischen Ruhe eingekehrt. Wieder falle ich minutenweise in Schlaf, dann sehe ich es blitzen. Ich zähle die Sekunden bis zum Donner. Käme jetzt ein Unwetter wie seinerzeit an Sylvester, wäre eine Panik zu befürchten. Als es zu regnen beginnt werden die Schläfer wieder munter, und auch ich entschließe mich endgültig aufzustehen und zusammenzupacken. Ich tauche ein zweites Mal in die Menschentraube vor der Eingangstür ein. Weil der Priester gerade begonnen hat, die Gläubigen zu segnen und sie mit Olivenöl auf der Stirn zu bekreuzigen, gelange auch ich bald ins Innere und empfange ebenso die Segnung des Priesters, so wie ich ihm meinerseits durch einen Handkuß meine Ehrerbietung bezeuge. Plötzlich entsteht Unruhe im Freien, und man führt einen Mann herein, der offensichtlich ernsthaft unterkühlt ist. Am ganzen Körper zitternd darf er sich in einen der Chorstühle setzen. Zufällig ist ein Arzt im Raume, der sich um in kümmert. Der Priester kann nach kurzer Unterbrechung und einem Segen für den Kranken, der sich rasch erholt, den Gottesdienst fortsetzen.

Die einzelnen Stundengebete sind nahtlos in die Feier der Göttlichen Liturgie übergegangen, es ist inzwischen drei Uhr vorbei und ich kehre nochmals an meinen "Schlafplatz" zurück. Ich frage mich, was wohl die ganzen Leute hier dazu bewegt, auf dem Gipfel zu campen, ohne sich im Geringsten für die religiöse Feier zu interessieren. Mit Rucksack kehre ich zur Kapelle zurück, ohne ein weiteres Mal hinein zu gehen. Um fünf Uhr beginnt es zaghaft zu dämmern, doch wird sich bei diesem Nebel die Sonne nicht im Osten zeigen. Kurz nach sechs Uhr beginnt mit dem Ende der Liturgiefeier ein regelrechter Exodus hinab zur Panagia. Die Camper brechen ihre Zelte ab, denn unten wartet das Feiertagsessen und der Wein. Alles verläßt in Scharen die Gipfelregion. Kurz vor halb sieben ist es mir hell genug, und ohne mich lange aufzuhalten gelange ich in einer Stunde und zwanzig Minuten zur Wegkreuzung "Stavros", wo ich mir eine halbe Stunde Pause gönne.

Zwar war ich durch den flotten Abstieg wieder gut durchgewärmt, doch begannen nach nun über 20 Stunden meine Füße in den Trekkingschuhen zu rebellieren, sodaß der endgültige Abstieg nach Nea Skiti noch einmal zu einer ganz privaten Bußübung geriet. Ob ich das Ganze nochmals machen würde? Kaum. Oder, vielleicht wenn das Wetter etwas sommerlicher wäre, bei sternklarer Vollmondnacht......warum eigentlich nicht!?

 

 

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